Grenzenlos

Grenzenlos – Begegnungen von Ost und West
Chorkonzerte zum Mauerfall-Jubiläum

30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer gestaltet der Südwestdeutsche Kammerchor Tübingen ein Programm, in dem sich Komponisten aus Ost und West begegnen. Die Anklage gegen den Krieg und die Bitte um Frieden sind zentrale Botschaften der modernen Chormusik, die an den beiden Abenden erklingt und um kurze Rezitationen thematisch passender Gedichte ergänzt wird. Der Eintritt ist frei, Spenden sind willkommen.

Das Programm beginnt mit Hanns Eisler (1898–1962), dem bedeutendsten Komponisten der DDR. Für „Gegen den Krieg“, das 1936 für einen Kompositionswettbewerb entstand, wählte er Texte aus der „Deutschen Kriegsfibel“ aus, die sein künstlerischer Partner Bertolt Brecht im dänischen Exil verfasst hatte. Die kurzen, spöttisch-zynischen Epigramme vertonte Eisler nach den strengen Regeln der Zwölftonmusik mit einem Thema und 24 Variationen, die in ihrer Wucht und Verzweiflung das Leid des Zweiten Weltkriegs vorwegnehmen.

Unter dem Eindruck des Münchener Abkommens 1938, in dem Großbritannien, Frankreich und Italien der Abtretung des Sudetengebiets an das Deutsche Reich zugestimmt hatten, schrieb der englische Komponist Benjamin Britten (1913–1976) „Advance Democracy“. Dafür vertonte Britten, selbst erklärter Pazifist, ein Gedicht des Kommunisten Randall Swingler, das als Aufruf zur Revoluti-on verstanden werden muss. Das achtstimmige Werk ist ein flammender Appell für den Erhalt der Demokratie in Europa, der in Zeiten des Brexit neue Aktualität erfährt.

Es schließt sich das „Alleluia“ von Randall Thompson (1899–1984) an, das der US-Amerikaner Anfang Juli 1940 für die Eröffnung einer Konzerthalle in Massachusetts komponierte. Doch anders als von seinem Auftraggeber erwartet, schuf er keine feierliche Fanfare – zu sehr betrübte ihn der Zweite Weltkrieg in Europa, wo die Deutschen soeben in Frankreich einmarschiert waren. Stattdessen ist ein ruhiger, nachdenklich-meditativer Trauergesang entstanden, der Thompsons bekanntestes Werk werden sollte.

Der ungarische Komponist und Musikpädagoge Zoltán Kodály (1882–1967) hat sich als Sammler und Erforscher ungarischer Volksmusik verdient gemacht. In dieser Tradition steht seine Vertonung des Gedichts „Die Alten“ (1933), das der ungarische Dichter Sándor Weöres mit erst 14 Jahren verfasste. Darin beschreibt er die Mühen des Alters angesichts des nahenden Todes aus der Sicht eines Nachkommenden – eines Vertreters einer späteren Generation, die mit dem nicht immer leichten Erbe ihrer Vorfahren umgehen muss. Kodály gelingt es, diese Last und Schwere musikalisch äußerst überzeugend umzusetzen.

„Un soir de neige“ (Ein verschneiter Winterabend) für sechsstimmigen Chor schrieb der französische Komponist Francis Poulenc (1899–1963) an den Weihnachtstagen 1944. Dafür vertonte er sur-realistische Gedichte von Paul Éluard, die von Schnee, Kälte und Erstarrung, von zu Tode gehetztem Wild und eingesperrten Menschen erzählen. Die zurückgenommene, düstere Tonsprache mit schwebenden Dissonanzen lässt die Bedrohung und Verzweiflung im Kriegswinter spürbar werden.

Als Arvo Pärt (geboren 1935) gebeten wurde, ein Werk zu schreiben für eine Aufführung des Jugendchores „Voices of Europe“ in der Kulturhauptstadt Europas Reykjavík im Jahr 2000, entschied er sich für einen sehr ungewöhnlichen Text aus dem Lukas-Evangelium: die Auflistung der Vorfahren Jesu mit über 70 Namen. Dabei ließ sich der bekannte estnische Komponist von der isländischen Tradition inspirieren, wonach sich die Familiennamen der Kinder aus den Vornamen der Eltern ableiten. „Which was the son of...“ betont den gemeinsamen Ursprung der Menschheit, wobei Pärt der repetitiven Struktur des Textes eine enorme stilistische Vielfalt entgegensetzt.

Als Gratwanderer zwischen Ost und West galt der deutsch-russische Komponist Alfred Schnittke (1934–1998): In der Sowjetunion, wo er den Großteil seines Lebens verbrachte, hielt man seine avantgardistische Musik für zu experimentell und westeuropäisch, während seine Werke auf Musikfestivals in Graz, Paris, London, Berlin, Donaueschingen und Wien gespielt wurden. Mit den „Drei geistlichen Gesängen“ (1984) hat Schnittke drei bedeutende Bibeltexte in der Tradition russisch-orthodoxer Kirchenmusik vertont. Zugleich schlicht und ergreifend wirkt die mal zarte, mal monumentale Musik in russischer Sprache.

Das Konzert endet mit „De profundis“ (2007) des philippinischen Komponisten John August Pamintuan (geboren 1972). Textgrundlage ist ein Gedicht des spanischen Dichters Federico García Lorca, das später als Hymne der Widerstandskämpfer im Spanischen Bürgerkrieg galt. Dicht aufeinanderfolgende Echoeffekte in den Frauenstimmen symbolisieren die verzweifelten Rufe der Toten aus ihren Gräbern, während das beschwörende „De profundis“ aus Psalm 130 (Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu Dir) in den Männerstimmen doch noch Hoffnung in sich trägt.


© Südwestdeutscher Kammerchor Tübingen e.V. Alle Rechte vorbehalten.

HTML Website Maker